Literaturempfehlung: Für Forscher als auch Praktiker, die sich mit Handlungstheorien beschäftigen ist der Klassiker von Hans Joas „Die Kreativität des Handelns“ eine hochinteressante Quelle.
„Die Kreativität des Handelns“ in Themen und Thesen (Bezug auf Kapitel 3)
Das Buch beinhaltet den ambitionierten Versuch von Hans Joas Kreativität zur Grundlage einer Handlungstheorie zu machen.
Auf der Basis der situierten Kreativität im Handlungsmodell des Pragmatismus geht es ihm nicht um eine bloße Erweiterung der Handlungstheorie um die Dimension der Kreativität, sondern um eine radikale Umstellung der Grundlagen der Handlungstheorie im Hinblick auf eine „Theorie kreativen Handelns”, die imstande ist, die Modelle des rationalen und des normorientierten Handelns zu überwölben.
Kreativität erscheint hier als Dimension allen menschlichen Handelns, während Routine, Normerfüllung und Zwecksetzung Produkt kreativen Handelns darstellen.
Ich beginne mit einer Ausgangsfrage:
Welche Alternative zu ökonomischen Handlungstheorien besteht für die Untersuchung unterrichtlicher Phänomene und ihrer Lernwirksamkeit?
In Joas‘ Werk „Die Kreativität des Handelns“ geht es um seine theoretische Grundlegung, dass es neben dem rationalen und dem normativ orientierten Handeln einen weiteren Aspekt geben muss. Er entwickelt die These, dass der kreative Charakter menschlichen Handelns eine theoretische Grundlage sein kann, die es ermöglicht, zentrale Phänomene unterrichtlichen Lernens besser zu verstehen.
Seine Überlegungen beginnen damit, wonach Handeln das kontingente Resultat der Auseinandersetzung des Akteurs in der Situation ist und dass Handlungsrationalität in der Situation entsteht und sich mit den Erfahrungen der Akteure verändert.
Sein zentraler Gedanke liegt in der Behauptung, daß sich den vorherrschenden Modellen des rationalen und des normativ orientierten Handelns ein drittes Modell hinzufügen lässt, für das sich der kreative Charakter menschlichen Handelns empfiehlt. Stillschweigende Annahmen vorhandener Handlungstheorien, wie die Gleichsetzung von Intentionalität mit Zweckorientierung, die Unterstellung einer Instrumentalisierbarkeit des Körpers und von Individualautonomie werden durch Joas aufgehellt. Es geht Joas nicht um eine bloße Erweiterung, sondern um eine fundamentale Umstellung der Grundlagen verbreiteter Handlungstheorie (S. 213) Ideengeschichtliche, systematische und anwendungsbezogene Begründungen helfen den kreativen Charakter menschlichen Handelns auch für die fachdidaktische Theoriebildung und für ein Verständnis unterrichtlichen Handelns aufzutun.
Handlungstheoretische Problemstellungen
Alle Handlungstheorien, die von einem Typus rationalen Hadelns ausgehen, (…) unterstellen den Handelnden erstens als fähig zum zielgerichteten Handeln, zweitens als seinen Körper beherrschend, drittens als autonom gegenüber seinen Mitmenschen und seiner Umwelt (S. 216/217). Häufig sind diese unterstellten Voraussetzungen nicht gegeben, diese Defizite werden nicht als Defizite der Theorie, sondern als Defizite den Handelnden selbst zugeschrieben.
Die Theorie rationalen Handelns geht mit dem Zweck-Mittel-Schema4 von einem permanent seine Optionen reflektierenden und kalkulierenden Akteur aus, der auf Grundlage seiner Abwägungen nutzenmaximierende Entscheidungen trifft. Hiergegen ist zu argumentieren, dass ein großer Teil unserer Handlungen im Stadium vorreflexiver Routinen verbleiben und eher durch Gewohnheit als durch Reflexivität charakterisiert sind. Handlungen finden im Fluss vorreflexiver Routinen statt; dadurch ist im Handlungsmodell immer schon eine zeitliche Dimension gegeben. Demgegenüber sind Routinen Sedimente vergangener Erfahrungen, die die Wahrnehmung der Situation organisieren. Unterbrochen werden die Gewohnheiten erst, wenn eine Situation für den Handelnden durch Anomalien beziehungsweise neue Erfahrungen problematisch wird und den Akteur dadurch zu einer reflexiven Einstellung gegenüber der Situation zwingt. Die bewusste Reflexion ermöglicht und verlangt die Veränderung der symbolischen Strukturen, mit denen Erfahrungen organisiert werden. Problematisch werden bei der Unterbrechung der Handlungsroutinen allerdings nicht alle Aspekte der Situation – außer möglicherweise in einschneidenden Krisen – sondern spezifische Teile. Für diese als problematisch erscheinenden Aspekte der Handlungssituation probieren Akteure, in einem Versuch-und-Irrtum-Prozess neue Lösungen zu finden; ist eine Lösung gefunden, stellt sich im Folgenden wieder ein routinisierter Handlungsablauf ein.
Joas geht davon aus, dass im Alltag bestimmte Handlungen in ihrer Ausführung, in ihrem Ablauf ziemlich ähnlich sind, bzw. jeden Tag in gleicher Weise erfolgen (S. 190). Das individuelle Agieren läuft quasi „automatisch“ ab (S. 190). Wenn man nämlich die Erfahrung gemacht hat, dass eine bestimmte Handlung die Erwartungen der Individuen erfüllt, die im Privat- oder Arbeitsleben eine bedeutende Rolle spielen, so behält man diese Handlung bei und führt sie auf die Art und Weise aus, die im Umgang mit anderen erwartet wird. So beginnt der Tag eines normalen Angestellten beispielsweise für gewöhnlich damit, dass er zunächst die Nachrichten, die das Geschäft betreffen, durch liest. Dann geht er dazu über, dringende Aufgaben zu erledigen.
Auf der Suche nach der Kreativitätslücke
Es geht in dieser Suche um die Zurückweisung der Vorstellung, dass Handlungsziele und -mittel von der Handlungssituation abgetrennt werden können. Diese rationalistische Handlungstheorie behauptet , dass Handeln sich als Realisierung vorgefertigter Handlungsziele verstehen lasse, die Akteure in die Handlungssituation einbringen. Dieser Interpretation des Handelns setzt der Pragmatismus nun die Vorstellung einer reziproken Beziehung zwischen Handlungszielen und Handlungsmitteln entgegen. Handlungsziele, so Joas, Dewey paraphrasierend, seien „meist relativ unbestimmt und werden erst durch die Entscheidung über zu verwendende Mittel spezifiziert“ (S. 227). Da Mittel untrennbar mit der Handlungssituation verknüpft sind, lassen sich die Handlungsziele der Akteure eben auch nur aus der konkreten Situation und der Interpretation dieser Situation durch die Handelnden verstehen und verändern sich im Handlungsverlauf.
Die von Dewey sogenannten „ends-in-view“ sind deshalb „nicht vorschwebende Zukunftszustände, sondern Handlungspläne, die das gegenwärtige Handeln strukturieren“ (S. 227). Die Verknüpfung von Erkennen und Handeln führt zu einem Verständnis von situierter oder praktischer Rationalität, bei der Handlungsziele als Mittel zur kognitiven Orientierung der Akteure in der Handlungssituation aufgefasst werden. Akteure entdecken ihre Handlungsziele und Präferenzen erst im Handlungsprozess selbst. Anfängliche Handlungsziele sind zwar Bestandteil des Handelns, sie können aber nicht das Handlungsresultat erklären. Denn Handlungsziele sind immer nur vorläufig. Sie entstehen mit den Erfahrungen der Akteure im Handlungsprozess und reifen und wandeln sich in der Situation.
Das Rationalmodell des Handelns ist darin gekennzeichnet, dass die Akteure, abgesehen von der Festlegung ihrer Präferenzen, über keinerlei Entscheidungsfreiräume verfügen. Sind die Handlungsziele einmal festgelegt, sind alle Handlungen durch die Wahl der optimalen Mittel zur Erreichung des Handlungsziels unter gegebenen Restriktionen bestimmt. Dieser Determinismus wird jedoch nicht der das Handeln auszeichnenden „Kreativität des Handelns“ gerecht. Zwar ist die Interpretation der Handlungssituation durchaus nicht beliebig, sondern vielmehr „vorgeformt in unseren Handlungsfähigkeiten und unseren aktuellen Handlungsdispositionen“ (S. 236). Insofern entsteht die Handlung in der reflexiven „Beziehung auf die in der Situation erlebte Herausforderung“ (ebd.) und schließt an vorreflexive Strebungen beziehungsweise Maßstäbe an, zu denen Werte, Vorstellungen einer gelungenen Persönlichkeit oder einer gelungenen Gemeinschaft gehören (ebd.: S. 239).
Die Reaktion auf die Situation bleibt jedoch ein kreativer Akt. Denn wie die Konventionen und Institutionen im Handeln umgesetzt werden, ist nicht determiniert, sondern Resultat der kontingenten Interpretation der Situation durch die Handelnden. Handeln findet in einem tentativen dialogischen Prozess des Ausprobierens von verschiedenen möglichen Handlungsweisen statt (Joas 1980: 91ff.). Dies ergibt sich aus dem beschriebenen Prozess der Emergenz von Handlungszielen und -mitteln, die nicht einfach „im“ Handelnden sind, und von diesem nur umgesetzt werden müssten, sondern die vielmehr erst mit der Erfahrung in der Situation entstehen. Akteure können erst von den Resultaten ihrer Handlungen aus diese verstehen und aus den Handlungsresultaten entstehen zugleich neue Handlungsziele und Präferenzen, die sich von den anfänglichen Zielen unterscheiden und zu neuen Handlungen motivieren.
Kreativität ist insofern ein unhintergehbarer Sachverhalt des Handelns in dem der experimentelle Umgang mit der Handlungssituation seinen Handlungszielen und der Handlungssituation dialogisch miteinander verknüpft sind. Sie verweist auf die Rolle von Ungewissheit im Erkenntnisprozess und entfaltet sich – genau wie das Verhältnis von Zielen und Mitteln im Handlungsprozess – in der Auseinandersetzung mit der empirischen Welt, wobei „beliefs“ 6 die Orientierungen für das praktische Handeln vorgeben.
Kreativität im Handlungsvollzug räumt vor allem mit dem Irrglauben auf, Lernende müssten zum Lernen gezwungen werden. Im Gegenteil: Kreativität treibt das Gehirn immerzu zum Lernen, ob wir wollen oder nicht. Wer es nicht glaubt, wird von allen Babys eines Besseren belehrt. Sie beweisen, dass Lernen kinderleicht ist: Von Anfang an erforschen sie kreativ die Welt, üben sich unermüdlich im Laufen, Sprechen oder Nervensägen – und haben ganz offensichtlich Spaß daran.
Vorläufige Antwort der Ausgangsfrage
Lernende Menschen sind von Natur aus kreativ, sie können gar nicht anders, denn sie haben ein äußerst effektives System hierfür im Gehirn eingebaut Die Frage, wie man Menschen kreativ handeln lässt, ist etwa so sinnvoll wie die Frage: Wie erzeugt man Hunger? Die einzig vernünftige Antwort lautet: Gar nicht, denn Kreativität stellt sich von allein ein. In Wahrheit gehe es bei der Erzeugung von Lernwirksamkeit letztlich immer um Probleme, die jemand damit hat, dass ein anderer nicht das tun will, was er selbst will. Die richtige Frage laute also nicht: Wie kann Kreativität im Handeln erzeugt werden? Sondern: Warum fühlen sich so viele Schüler häufig im Unterricht in ihrer Handlungskreativität eingeschränkt?
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